31 Mrz Auftaktveranstaltung des Projekts Radikalisierende Räume
Radikalisierung spielt in Medien und Politik eine zunehmend große Rolle. Egal, ob es um islamistische motivierte Anschläge geht, um die Ausreise junger Menschen aus Deutschland in Gebiete der Terrormiliz IS oder um so genannte Hassprediger im Stadtteil – die Fragen sowohl nach den Ursachen für neo-salafistische Radikalisierung als auch nach wirksamer Präventionsarbeit gewinnen an Bedeutung.
Genau hier setzt das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Verbundprojekt „Radikalisierende Räume“ an, das Anfang Oktober 2020 seine Arbeit aufgenommen hat. Die Auftaktveranstaltung fand am 22. März 2021 statt. Ziel dieser Veranstaltung war es, den Mitgliedern des Beirats sowie interessierten Fachkolleg*innen den bisherigen Projektstand vorzustellen sowie über Fragen der Präventionsarbeit und der Quartiersentwicklung zu diskutieren.
Erster Tagesordnungspunkt war ein einführender Beitrag von Projektleiter Sebastian Kurtenbach zur Rolle des Raumes in Radikalisierungsprozessen. Kurtenbach macht dabei deutlich, dass es auf der einen Seite zwar Forschung zum Thema Radikalisierung gibt, die Frage des Raumes jedoch bisweilen nicht systematisch geklärt ist. Weiterhin gibt es eine Reihe von Forschungsarbeiten, die untersuchen, wie sich das Aufwachsen in einem sozial benachteiligten Stadtteil auf das spätere Leben auswirkt. Beispielhaft hierfür stehen die Untersuchungen von Raumeffekten auf wie z.B. Bildungserfolg, Einkommen, Gesundheit, Kriminalität oder Sozialvertrauen. Das Projekt „Radikalisierende Räume“ fokussiert die Verbindung von Radikalisierungsforschung mit räumlichen bezogenen Ansätzen und es soll die Frage klären werden, wie der Raum die Anfälligkeit für Radikalisierung begünstigt. Darauf aufbauend und ebenso relevant für das Vorhaben ist das Herausarbeiten von Handlungsempfehlungen für eine sozialraumorientierte Arbeit gegen Radikalisierung. Gegliedert ist das Forschungsprojekt in vier Teilprojekte. Für das erste dieser Teilprojekte wird ein wissenschaftlicher Mitarbeiter jeweils ein Jahr lang vor Ort in einem Stadtteil mit ansässiger islamistischer Szene leben und die Interaktion zwischen radikalen Gruppierungen und (Stadt-)Gesellschaft beobachten. Ein weiterer Projektmitarbeiter wird mögliche Verknüpfungen und Abgrenzungen zwischen der neo-salafistischen Szene und dem (klein)kriminellen Milieu vor Ort erforschen. Im zweiten Teilprojekt werden repräsentative Befragungen durchgeführt. Hierbei kommen quantitative Methoden zum Einsatz, die Radikalisierung vom Stadium der Anfälligkeit bis hin zur Verfestigung der politischen Ideologie messen. Das dritte Teilprojekt besteht aus leitfadengestützten Interviews mit Praktiker*innen und Bewohner*innen der Stadtteile. Diese Perspektivensollen Aufschluss über Bedarfe, Möglichkeiten und Potenziale sozialraumorientierter Ansätze aufzeigen. Im vierten Teilprojekt werden kommunale Handlungskonzepte auf etwaige Angebote der Extremismusprävention untersucht. Am Ende werden aus den Ergebnissen der vier Teilprojekte Praxisinstrumente und -strategien entwickelt, die in der Präventionsarbeit gegen das Auftreten und die Ausbreitung radikaler Gruppierungen im Stadtteil.
Impulsvortrag von Britta Hecking: Was braucht die sozialräumliche Radikalisierungsprävention?
Britta Hecking hat am orientalischen Institut der Universität Leipzig promoviert. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Camino e.V. und forscht über Jugend und Stadtentwicklung. In ihrem Vortrag über „Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention“ stellte sie zunächst die kontroversen Perspektiven auf den Zusammenhang zwischen sozialen Räumen und Radikalisierung heraus. Unter anderem in Frankreich gibt es darüber einen Richtungsstreit. Auf der einen Seite stehen Wissenschaftler*innen, die davon ausgehen, dass es keinen direkten Zusammenhang gibt: Verarmte Nachbarschaften werden demnach nicht automatisch zu Hochburgen der Radikalisierung. Die andere Seite des Diskurses geht davon aus, dass soziale Räume einen großen Einfluss auf Radikalisierung haben. Demnach sind Menschen, die in marginalisierten Räumen leben, anfälliger für Ideologien u. a. neo-salafistischer Gruppen. Diese Perspektive nimmt weitgehend auch die Forschung in Deutschland ein. Die ethnische Segregation armutsgeprägter Quartiere wird vor allem mit Blick auf Probleme und Konflikte betrachtet. Radikalisierung gilt demnach als negatives Zukunftsszenario für diese Räume. Kritiker*innen sehen in diesem Fokus auf „Rückzugs- und Selbst-Ethnisierungen von Minderheiten“ ein Problem, da Einhegungspraktiken der Dominanzgesellschaft aus dem Blick geraten und kaum oder gar nicht thematisiert werden. Die hegemoniale Sichtweise der Mehrheitsgesellschaft wird als Normalität dargestellt, dadurch werden gesellschaftliche Machtverhältnisse verfestigt, ein „Wir gegen die“ wird reproduziert. Zudem bietet diese Perspektive eine Angriffsfläche für Rechtsextreme. Gerade wegen dieser vorherrschenden Perspektive ist es wichtig, den Forschungsstand genauer zu betrachten. Denn bisherige Studien belegen keinen monokausalen Zusammenhang zwischen sozialräumlicher Marginalisierung und Radikalisierung – aber sehr wohl räumliche Verdichtungen und Verschränkungen von Risikofaktoren wie Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, lokale Missstände, Isolation oder Gewaltlegitimation. Die meisten Forschenden sind sich aber einig, dass es nicht nur auf das Vorhandensein von Risikofaktoren ankommt – es braucht auch Gelegenheiten, sich zu radikalisieren, also Pull-Faktoren. Die Studien kommen zu dem Schluss, dass Radikalisierung ein Mikro-Phänomen ist, die Mehrheit der Quartiere wird trotz Risikofaktoren nicht zur Brutstätte für Radikalisierung. Deshalb sollte die Forschung aus Sicht von Britta Hecking drei Ratschläge beherzigen:
1. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Radikalisierung und Raum: Denn neben Risikofaktoren gibt es auch raumeigene Schutzfaktoren, Räume können sich auch als sehr resilient gegenüber Radikalisierung erweisen. Raum sollte man daher nicht nur auf seine Kontexteffekte reduzieren, sondern als offenes Konzept verstehen.
2. Auf rassismus- und diskriminierungskritischen Ansätzen aufbauen: Empowerment ist demnach nicht nur ein Mittel für die Prävention, sondern auch eine Voraussetzung dafür.
3. Einen Perspektivwechsel vornehmen: Räume nicht nur unter Sicherheits- und Integrationsaspekten denken und Stadtteile deshalb nicht nur als Brutstätten für Extremismus wahrnehmen, sondern auch als Laboratorien für inklusive Demokratie.
Impulsvortrag von David Clement: Möglichkeit der Praxis bei der Radikalisierungsprävention
David Clement hat an der Universität Erfuhrt promoviert und war beim Jugendamt der Stadt Bonn angestellt. Heute arbeitet er als Research Advisor bei Public Safety Canada. In seinem Vortrag über „sozialraumorientierte Kinder- und Jugendarbeit und Radikalisierungsprävention“ stellte er drei Fallbeispiele aus der Praxis vor. In allen drei Fällen hatten Pädagog*innen es mit einer beginnenden oder schon fortgeschrittenen Radikalisierung von Jugendlichen zu tun. Die Maßnahmen, die die Fachkräfte dagegen ergriffen, unterschieden sich aber stark. In einem Fall thematisierten sie die radikalen Ansichten einiger Jugendlicher in einem Theaterprojekt, im zweiten wurde die Beratungsstelle Wegweiser hinzugezogen, um mit einem einzelnen Jugendlichen zu arbeiten, und im dritten Fall wurden radikalisierte Jugendliche aus dem Jugendzentrum ausgeschlossen. David Clement zieht aus diesen Fällen den Schluss, dass stabile Beziehungen ohne Abbrüche zwischen den Fachkräften und den Jugendlichen wichtig sind, um die Radikalisierung nicht nur auf inhaltlicher und argumentativer Ebene zu adressieren, sondern die Jugendlichen mittels einer akzeptierenden Haltung mit anderen Einstellungen zu konfrontieren. Ein möglicher Untersuchungsgegenstand für das Projekt „Radikalisierende Räume“ könnte aus Sicht David Clements sein, wie eine Zusammenarbeit zwischen Regelstrukturen und spezialisierten Angeboten aussehen könnte, also zum Beispiel die Kollaboration zwischen einem Jugendzentrum und dem Aussteigerprogramm „Wegweiser“.
Im Anschluss an die beiden Vorträge folgte eine Diskussion mit unterschiedlichen Fragen und Anmerkungen der Teilnehmenden, die für das Forschungsprojekt zukünftig wichtig werden können. Diskutiert wurde über die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Quartiersmanagement. Die teilnehmenden Praktiker*innen berichteten, dass es bislang kaum eine Zusammenarbeit der beiden Einrichtungen gibt, allerdings durchaus Berührungspunkte in den Gremien bzw. durch personelle Überschneidungen vorhanden sind. Anschließend daran kam die Frage auf, wie konkrete Räume für eine gelungene Präventionsarbeit aussehen. Während einige der Praktiker*innen auf einen Mangel an Räumen für Jugendliche hinwiesen, gab es nach Ansicht anderer Teilnehmer*innen genügend Aufenthaltsorte für diese Zielgruppe. Einig waren sich alle, dass die Räume an sich wenig bringen, wenn sie nicht mit pädagogischen Konzepten gefüllt sind.